Freitag, 23. Januar 2015

Wenn mit dem Strom gegen den Strom ist

Bist du schon mal gegen den Strom geschwommen?

Lassen wir mal diese ganzen altklugen Sprichwörter beiseite und nennen die  Dinge beim Namen. Gegen den Strom schwimmen bedeutet einen riesigen Aufwand an Energie, Nerven und Zeit. Jedes Kind weiss das und wenn nicht, findet sich immer ein Elternteil, der es ihm einbläut, das könnt ihr mir glauben. Doch was, wenn gegen den Strom eben doch richtig ist?

Niemand von uns würde bezweifeln, dass es richtig war, sich der Nazi-Ideologie im 3. Reich zu erwehren. Ebenso würde kaum wer es (mehr) wagen das Handeln von Olympe de Gouge, der „Urmutter“ der Frauenrechtsbewegung, als falsch zu bezeichnen. Und doch, die Leute schwammen gegen den Strom. Regimegegner wurden deportiert, erschossen, misshandelt und die gute Olympe verlor den Kopf ob des Wirkprinzips einer Guillotine… Würden wir so handeln? Eher nicht!

Mir stellen sich da zwei Fragen. Kann es richtig sein, gegen den Strom zu schwimmen? Und wenn ja, wann?... Ich denke, wir können uns beim ersten Punkt auf ein klares JA einigen. Beim zweiten wird’s schwierig und auf diese Debatte gehe ich jetzt nicht ein. Ich bitte dich nur, dir folgende Fragen durchzudenken: „Wenn du dich selbst verraten musst um mit dem Strom zu schwimmen, ist es dann nicht klüger gegen den Strom zu schwimmen? Und ist es überhaupt richtig davon zu sprechen, gegen den Strom zu schwimmen, wenn du dabei du selbst bist? (Ist unsere Welt wirklich nur zweidimensional?)“


Denk bitte wirklich einen Moment darüber nach und wenn möglich, fühl darüber nach.


Behalte deine Gedanken und Gefühle präsent, ich muss hier kurz ausholen um meine Sicht und meine Geschichte aufzuschlüsseln:

Die ersten dieser Erinnerungen setzen im Alter von 4 – 5 Jahren ein. Wir sind eben umgezogen, neue Wohngegend, neuer Kindergarten, neue Kinder, ein Albtraum. Wenn ich vorher einfach „Raffi“ war und so gut war, so war ich’s hier nicht mehr. Meine spannenden Phantasiegeschichten wurden zu blöden Kinderlügen, meine Eigenarten wurden zu übergrossen Zielscheiben, vom "Raffi" in der Gruppe wurde ich zum Sandsack der Gruppe... Gebrandmarkt und Ausgestossen.
Was das wirklich bedeutet versteht nur, wer selbst zu einer Personengruppe gehört hat, die massiv unter Beschuss steht. Und glaubt mir, es sind mehr als sich die meisten eingestehen wollen! Mit den nächsten Erinnerungen will ich auch gleich ein Gedankenexperiment mit euch starten. Macht mit und ihr erhaltet vielleicht einen Einblick der euch eine Ahnung davon vermittelt, was es heisst „anders zu sein“.
Ich bin anders, das hatte ich festgestellt. Doch ist anders nun richtig oder falsch? Fragen wir mal meine Mitmenschen in meinen Erinnerungen.  Ich schildere gleich einige Situationen, versetz dich hinein und kuck was du fühlst, wie du dich fühlst. (Gedankengänge sind kursiv geschrieben)

Schule, der rote Platz (6-9 Jahre alt):
Pause, na toll, drinnen bleiben dürfen wir nicht und alle ruhigen Plätze gehören auch zu den verbotenen Zonen. Zudem hat Mami gesagt ich soll mit den Anderen spielen… Na gut, ich versuch’s mal wieder, vielleicht lassen sie mich diesmal einfach nur mitspielen. Weit gefehlt, kaum betrete ich „den roten Platz“ (roter Hartgummibelag) hör ich die leisen, getuschelten Kommentare. „Oh neeeein, Raffi  kommt.“ und „Wieso der schon wieder?“
Erste Beleidigungen lassen nicht lange auf sich warten. Welche? Ich weiss es schon nicht mehr… Sie beleidigen mich, sie lachen mich aus, schubsen mich rum, tun mir weh, in mir drinnen und aussen. Warum nur, ich hab ihnen doch nichts getan, oder? Die Lehrer tun nichts, „Kinderspiele“ nennen sie sowas. Da halt ich nicht mehr aus, ich will nur noch weg. Ich will hier raus, aber die Anderen lassen mich nicht. Etwas zerreisst, etwas in mir, ich raste aus. Von da an stehe ich neben mir, sehe meinem Körper zu wie er versucht, die zu stoppen die mir weh tun, mit Schlägen, Tritten, Würgen, Schubsen… Hauptsache es tut nicht mehr weh.

Einmal pro Woche passiert es etwa. Bald schon tragen die Anderen „den roten Platz“ zu mir, wenn ich nicht mehr zum roten Platz komme. Wieso nur? Ich will doch nur meine Ruhe. Die Erwachsenen sagen, es läge an mir, aber meinen Fehler benennen sie nie und ihre Tipps funktionieren auch nicht… Bin ich falsch?
 

 
Erwachsenengespräche, (zufällig) mitgehörte Gesprächsfetzen (bis ca. 12 Jahre alt):
„… Er ist immer so alleine, er hat keine Freunde, ich weiss nicht was er falsch macht, aber das ist traurig…“
„… ein schwieriges Kind. Er muss immer ärger machen, dabei ist er ja eigentlich gut in der Schule. Er könnte so viel aus sich machen, wenn er nur folgen würde…“
„… schliesst sich immer in seinem Zimmer ein und geht nicht raus. Wie soll er so je Freunde finden? Kein Wunder, dass die Anderen ihn nicht mögen, wenn er immer so eigensinnig und stur sein muss…“
„… er ist ein unverbesserlicher Egoist…“, „… er kann aber auch gar nichts richtig machen…“

Was soll ich davon halten? Als Kind, das versucht sein bestes zu geben, um zu sein wie es erwartet wird. Was heisst das? Bin ich falsch?


Grenzen erkennen:
DER MAGISCHE SATZ: „ Du musst lernen Grenzen zu erkennen.“ Wow, wenn ich für jedes mal, wenn ich den Satz (oder eine Variation) gehört habe 1 CHF gekriegt hätte, müsste ich heute nicht arbeiten,  sondern meinen Banker anrufen und fragen was die Investitionen machen… Sehen wir mal, was du hiervon hältst:
ENDLICH! Schule vorbei, am liebsten würde ich mich nur noch in meinem Zimmer verkriechen und nicht wieder herauskommen… Geht ja leider nicht. Momente später: „RAAAAAAAAFFFIIIIIIII EEEEEEESSSSEEEEEEEEN!“ … Mist, hab eigentlich keinen Bock jetzt runter zu gehen. Aber bringt ja nichts dich jetzt zu sperren. Beim Essen werden prinzipiell Themen angeschnitten die immer gleich lauten und nicht nach der hässlichen Wahrheit fragen. „Wie war‘s in der Schule?“ – „ Absolut beschissen.“ – „Jetzt stell dich nicht so an, so schlimm war’s bestimmt nicht.“ Wieder in meinem Zimmer galt Tür zu, ausschalten. Einzige Garantie? Min. jeden 2. Abend steht ein Elternteil ohne meine Erlaubnis im Zimmer. Im Streitfall, was meist eine 3 – 5 tägige Periode umfasste galt Privatsphäre grundsätzlich nichts, reinplatzen und rumbrüllen lautete die Devise. Der Zimmerschlüssel wird einem weggenommen, der Schliessmechanismus blockiert, „Keine geschlossenen Türen in diesem Haus, respektier das endlich!!“ Dann verdammt nochmal respektier, dass NEIN auch NEIN heisst und eine geschlossene Tür heisst LASS MICH IN RUHE! Aber etwas  Respekt ist wohl zu viel verlangt…

Aber was waren die Grenzen, die ich erkennen lernen sollte? „Du redest oft zu viel.“ Nur weil ich was zu sagen habe, dass mehr als Ja und Amen ist? (Teils hab ich das wohl auch als  „Waffe“ benutzt um Leute auf Distanz zu halten), „Du bist immer wieder stinkfrech.“  Weil ich dir den Respekt verweiger, den du mir auch nicht zollst oder weil ich die Wahrheit sage, auch wenn sie unangenehm ist?, die Liste ist lang aber alles läuft auf die Frage hinaus „Sagst du mir grade, dass ich falsch bin?“


Leider habe ich eben doch zugehört… Aus „Ich bin Anders!“ ist „Ich bin falsch!“ geworden. Das letzte Beispiel ist eine sehr weich gezeichnete Variante dessen, was passiert ist, aber sie zeigt das Problem auf. Während der Lehre war ich für viele ein willkommenes Ziel für Mitstifte, die einen Ego-Boost brauchten, Message: Du bist falsch! Nach einem Beinahe-Zusammenbruch wurde mir mit Ausschluss gedroht, Message: Du bist falsch! Die Klasse schien durchzudrehen nach dem Suizid eines Klassenkameraden, ich wollte das mit Hilfe der Lehrer richten, die Klasse sperrt, mir wird mit Ausschluss gedroht -> Message? Ja, DU BIST FALSCH! Es geht noch weiter, aber lassen wir das jetzt.

So stand ich da, 20.5 Jahre alt, Lehre frisch beendet, ein psychisches Wrack und dort wo mein Selbstwert sein sollte hängt ein Zettel auf dem steht: „ICH BIN FALSCH!“ So bin ich auch ausgezogen.

Seither habe ich versucht zwei Fragen zu beantworten: „Bin ich wirklich falsch?“ und „Was ist richtig?“ Ich bin weit gekommen auf der Reise, hab vieles aufgebaut, viel Geschirr zerschlagen… Jeder, den ich gefragt habe, scheint zwar zu wissen was richtig ist, aber die wenigsten leben danach. Bin ich dann wirklich falsch? Oder war ich überhaupt je falsch? Und ist richtig wirklich richtig, wenn keiner danach lebt?

Vor einer Weile habe ich diese alten Fragen dann verabschiedet, den alten Zettel weggeworfen. Mein Instinkt hat mir nämlich über all die Jahre gesagt „Du bist anders, aber nicht falsch.“ So ging ich der Frage nach, was nun „anders“ heissen soll. Heute weiss ich’s, Anders sein heisst in meinem Fall dem Autismus-Spektrum zuzugehören.

Und die Ausgangsfrage? Nun, ich bin gut 20 Jahre mit dem Strom geschwommen und hatte am Schluss statt einem gesunden Selbstwertgefühl einen Zettel auf dem steht „DU bist flasch!“ Ich meine, sooo falsch ist die Aussage ja nicht, nur unvollständig. Korrekterweise müsste auf dem Zettel stehen „Du bist HIER falsch!“

Ich frage nochmal, ist gegen den Strom schwimmen wirklich falsch? Oder ist es vielleicht nicht eher so, dass das bedeutet, dass wir im falschen Strom sind?


 

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